Am 20. Juli 2007, mitten im ersten Prozess um den Tod von Oury Jalloh, erreichte die Kanzlei der Nebenklage ein Brief, wie er brisanter kaum sein könnte: maschinengeschrieben, ohne Absender, ohne Unterschrift. Die Anwälte gaben ihn an die Staatsanwaltschaft weiter, wodurch er in die Ermittlungsakte gelangte. Doch weder im Prozess, in dem der Richter den Dessauer Polizeizeugen Falschaussagen vorwarf und der in einem Freispruch endete, noch in der öffentlichen Debatte wurde dieses Dokument je erwähnt. Auch im zweiten Prozess zum Tod von Oury Jalloh spielte dieser Brief keine Rolle.
Der Brief benennt schon damals Manipulationen, verschwundene Beweise und einen weiteren, im Jahr 2007 noch unbekannten Todesfall im Polizeigewahrsam Dessau. Das Recherche-Zentrum macht ihn nun erstmals der Öffentlichkeit zugänglich.
Das Recherche-Zentrum hält dieses Schreiben für authentisch. Denn zum Zeitpunkt seines Eingangs bei der Vertretung der Nebenklage war der Fall Jürgen Rose völlig unbekannt. Erst mehr als ein Jahr später wurde er von einem damaligen Dessauer Polizisten im Gericht angesprochen. Deshalb kannten nur die wenigen Anwesenden im Saal den Namen Jürgen Rose. Daher spricht viel dafür, dass nur ein Insider die erwähnten Details im Jahr 2007 kennen konnte.
Heute liegt der Inhalt des Schreibens auch dem Generalbundesanwalt vor: Er ist Bestandteil der Anzeige, die die Familie von Jürgen Rose gemeinsam mit dem Recherche-Zentrum eingereicht hat. Der Generalbundesanwalt erklärte sich nicht zuständig und verwies auf die Landesebene. Die Generalstaatsanwaltschaft Naumburg gab die Anzeige an die Staatsanwaltschaft Halle weiter, die die Aufnahme von Ermittlungen ablehnte. Nach dem Widerspruch der Familie liegt der Fall nun erneut bei der Generalstaatsanwaltschaft Sachsen-Anhalt.
Angst und Druck innerhalb der Polizei
„Das liegt weniger an Feigheit“, schreibt der Verfasser, „sondern geschieht aus Sorge um meine Familie.“ Er erklärt damit, warum er seinen Namen nicht nennen kann. Innerhalb der Polizei herrsche „ein beträchtlicher Druck gegen alle, die die Wahrheit über möglicherweise rassistische Lebensanschauungen aussprechen.“ Schon hier wird klar: Wer diesen Brief schrieb, sah sich bedroht und wusste Dinge, die nicht nach außen dringen sollten. Es sind die offenen Geheimnisse der Dessauer Polizei.
Oury Jalloh – Das Feuerzeug
Im Brief heißt es, die Tatortgruppe habe bei der Spurensicherung „kein Feuerzeug gefunden“. Angesichts ihrer Erfahrung sei es, so der Verfasser, „mehr als unwahrscheinlich, wenn ein Feuerzeug da gewesen wäre, dass es übersehen worden wäre“. Erst später, schreibt er, habe ein Beamter der „Regionalpolizei“ ein Feuerzeug „angeblich entdeckt und später überreicht“.
Tatsächlich entwickelte sich genau dieses Feuerzeug zum strittigsten Beweismittel im Revisionsverfahren und später zum Symbol der jährlichen Gedenkkundgebungen am 7. Januar in Dessau. Vor Gericht wurden Zweifel an seiner Herkunft immer wieder thematisiert. Erst 2012 wurde das Feuerzeug vom LKA Sachsen-Anhalt untersucht. So wurde gutachterlich festgestellt, dass die Spuren auf dem Feuerzeug „keinem der vorliegenden textilen Brandreste zugeordnet werden“ konnten. Mit anderen Worten: Es befand sich nicht in der Hose, die Oury Jalloh trug, als er verbrannte.
Damit wirkt der Vorwurf aus dem Brief plausibel: dass das Beweisstück nachträglich in die Asservate eingeführt wurde. Bemerkenswert ist, dass jemand diesen Verdacht schon 2007 so klar formulierte.
Jürgen Rose – Manipulierte Unterlagen
Im Brief heißt es zum Tod von Jürgen Rose: „Damals hat man schon gegen Beamte des Polizeireviers ermittelt. Man soll damals auch versucht haben, die Gewahrsamsunterlagen zu manipulieren.“ 2007 stand dieser Satz unscheinbar in einem anonymen Schreiben. Heute wissen wir, dass genau diese Manipulationen stattgefunden haben.
Am 28. März 2024 präsentierte das Recherche-Zentrum in Berlin ein schriftforensisches Gutachten des britischen Experten John Welch. Welch arbeitete jahrzehntelang bei der Metropolitan Police in London und gilt als einer der renommiertesten Forensiker seines Fachs. Er untersuchte sieben Seiten aus den Ermittlungsakten, darunter den sogenannten Lagefilm und das Schmierbuch der Dienstgruppe. Das Gutachten belegte, dass alle Zeiten, die Jürgen Rose betreffen, nachträglich mit Tipp-Ex gelöscht und mit Schreibmaschine neu eingefügt wurden.
Damit ist die offizielle Chronologie des Falls Rose nachweislich gefälscht, genau wie es der Verfasser des Briefes schon 2007 angedeutet hatte. Hätten Staatsanwaltschaft oder Gericht diese Hinweise damals ernst genommen, hätten Beweise gesichert oder Zeugen unter Wahrheitspflicht vernommen werden können. Diese Chance wurde vertan.
Zelle oder Speisesaal?
In den Ermittlungsakten wird in der frühen Phase der Speisesaal als „Aufenthaltsort“ von Jürgen Rose genannt. Dieser Befund wurde jedoch nie abschließend ermittelt. Stattdessen hielten die Ermittler einen Fenstersturz für die wahrscheinlichste Erklärung, obwohl rechtsmedizinische Befunde diese Darstellung eindeutig widerlegten. Genau an diesem Punkt setzt der anonyme Brief an: Darin heißt es, Rose sei „in einer Zelle verstorben und später aus dem Fenster eines Hauses im Stadtgebiet ‚gefallen‘“. Der Verfasser deutet damit schon 2007 an, dass es sich bei der Fenstersturz-These um eine absurde Erklärung handelte.
Der Hinweis auf eine Zelle ist nicht nebensächlich. Sollte Jürgen Rose dort gefoltert worden sein und nicht im Speisesaal, entspräche das dem Muster der beiden späteren Todesfälle von Mario Bichtemann und Oury Jalloh, die beide in Zelle 5 starben.
Fehlende Beweise
Der Brief behauptet auch, dass bestimmte Beweismittel nie in die Ermittlungsakte aufgenommen wurden. Tatsächlich fehlen bis heute die Protokolle der ersten Befragungen der mutmaßlichen Hauptverdächtigen. In den Akten findet sich kein Hinweis, dass diese überhaupt geführt wurden. Besonders auffällig ist zudem eine Lücke rund um den Speisesaal: Die kriminaltechnische Untersuchung dieses Raumes ist in der Akte enthalten, doch der Vermerk, auf dessen Grundlage diese Untersuchung veranlasst worden sein muss, fehlt. Ohne einen solchen Hinweis hätte die Untersuchung gar nicht stattfinden können. Genau diesen Verdacht hatte der anonyme Brief 2007 bereits formuliert: dass Unterlagen existierten, aber nie in die offizielle Beweisakte aufgenommen wurden.
Ein Muster der Vertuschung
Der Brief von 2007 wirkt im Rückblick wie ein Frühwarnsignal. Informationen, die heute das Ergebnis jahrelanger Recherche sind, waren damals offenbar schon innerhalb der Polizei bekannt. Doch weder Ermittler noch Justiz griffen diese Hinweise auf. Damit blieb eine Chance ungenutzt, schon früh das Ausmaß der Vorgänge im Revier Dessau zu erkennen. Fest steht: Die Fälle von Oury Jalloh, Mario Bichtemann und Jürgen Rose weisen dieselben Strukturen auf – Tod im Polizeigewahrsam und ein, vorsichtig formuliert, fragwürdiger Umgang mit Beweismitteln und Akten, der eine echte Aufklärung bis heute verhindert.
Unterstütze die Forderung der Familie Rose
Die Familie von Jürgen Rose fordert, dass die Ermittlungen endlich wiederaufgenommen werden und hat einen Offenen Brief an den Generalbundesanwalt verfasst. Wer die Familie unterstützen möchte, kann hier unterschreiben: openpetition.de/!fallroseprüfen
