Ermittlungen abgelehnt – Familie erhebt schwere Vorwürfe, Petition an Generalbundesanwalt
Wenn es nach der Staatsanwaltschaft Halle geht, bleibt der Tod des 36-jährigen Ingenieurs Jürgen Rose nach seinem Aufenthalt im Polizeirevier Dessau im Dezember 1997 weiter ungeklärt. Trotz neuer Beweise lehnt die Behörde die Wiederaufnahme der Ermittlungen ab, eine Entscheidung, gegen die die Familie juristisch vorgeht.
Gemeinsam mit Familie Rose arbeitet das Recherche-Zentrum e.V. daran, den Fall aufzuklären und die Täter zu überführen. Am 28. März 2024 präsentierten sie auf einer Pressekonferenz unter anderem ein forensisches Schriftgutachten, das die nachträgliche Manipulation polizeilicher Dokumente in der Ermittlungsakte belegt. Dabei handelt es sich um Protokolle jener Nacht, in der nachweislich alle Uhrzeiten, die Jürgen Rose betreffen, mithilfe von Tipp-Ex verändert wurden.
Auf der Grundlage zahlreicher neuer Indizien und Beweismittel reichten sie am selben Tag eine 40-seitige Strafanzeige wegen Mordes beim Generalbundesanwalt ein. Diese richtet sich konkret gegen vier damalige Beamte des Polizeireviers Dessau.
Das erste Opfer im Oury-Jalloh-Komplex: Jürgen Rose
Jürgen Rose war kein Einzelfall. Fünf Jahre nach seinem Tod kam Mario Bichtemann im Jahr 2002 mit einem Schädelbruch in Zelle 5 des Dessauer Polizeireviers ums Leben. In genau dieser Zelle starb 2005 auch Oury Jalloh unter bis heute ungeklärten Umständen. Drei Todesfälle, ein Polizeirevier und keine strafrechtlichen Konsequenzen für die mutmaßlichen Täter.
Auch für Rechtsanwalt Sebastian Scharmer, der die Familie Rose vertritt, markiert der Tod von Jürgen Rose den Ausgangspunkt einer Reihe ungeklärter Todesfälle, die in Zusammenhang mit ein und demselben Revier stehen. Er sieht darin nicht nur eine besondere Bedeutung für die Aufarbeitung des Falls, sondern auch einen klaren Staatsschutzbezug und damit die Voraussetzung für eine Übernahme durch den Generalbundesanwalt.
In einem ergänzenden Schreiben zur Strafanzeige stellt er die grundlegende Frage: Wie soll die Bevölkerung einem Staat vertrauen, der den „Verdacht zulassen würde, dass Polizeibeamte eines Reviers ungehindert und ungeahndet Menschen […] willkürlich festnehmen, foltern und töten können und darauffolgend Urkunden zu ihrer scheinbaren Entlastung manipulieren können?“
Trotz neuer Beweise: Generalbundesanwalt verweist auf Landeszuständigkeit
Im August 2024 lehnte der Generalbundesanwalt eine Übernahme des Verfahrens im Fall Jürgen Rose ab. In einem Antwortschreiben an das Recherche-Zentrum e.V. erkannte er zwar eine „ungewöhnliche Häufung erklärungsbedürftiger Todesfälle“ im Polizeirevier Dessau an, sah jedoch keine Hinweise auf ein strukturelles „kriminelles Netzwerk“ innerhalb der Polizei oder Justiz in Sachsen-Anhalt. Auch wenn ein gewaltsamer Tod durch Polizeibeamte vorläge, handele es sich laut Generalbundesanwalt um ein durch „lokale Verhältnisse“ geprägtes Delikt und damit um eine Angelegenheit der Landesjustiz.
Die Strafanzeige wurde an die Generalstaatsanwaltschaft Naumburg weitergeleitet, die sie zur Prüfung an die Staatsanwaltschaft Halle abgab.
Staatsanwaltschaft Halle stützt sich auf Prüfvermerk von 2018
Im Januar 2025 lehnte die Staatsanwaltschaft Halle die Wiederaufnahme der Ermittlungen ab. Ihre Begründung fiel knapp aus: Die Beweislage sei „unverändert“, die neue Strafanzeige enthalte keine neuen Erkenntnisse, sondern lediglich „Mutmaßungen“.
Statt eigene Ermittlungen aufzunehmen, stützte sich die Behörde weitgehend auf einen Prüfvermerk der Generalstaatsanwaltschaft Naumburg von 2018. Dieser war im Zusammenhang mit dem Fall Oury Jalloh erstellt worden, bezog sich aber auch auf Jürgen Rose. Die darin geäußerten Theorien, etwa ein Suizid oder ein Überfall durch Unbekannte am Dessauer Hauptbahnhof, wurden von der Staatsanwaltschaft Halle nahezu vollständig übernommen. Nahezu der gesamte Text der Ablehnung – 19 von 20 Seiten – besteht aus wörtlichen Zitaten dieses Prüfvermerks.
„Lebensfremde Hypothesen“: Familie erhebt schwere Vorwürfe
Gegen die Entscheidung der Staatsanwaltschaft Halle hat die Familie Rose Beschwerde eingelegt. Rechtsanwalt Scharmer kritisiert die pauschale Zurückweisung der Strafanzeige und die fehlende Auseinandersetzung mit den neuen Beweisen.
Besonders schwer wiegt für die Familie der Umgang mit der Suizidthese: Laut rechtsmedizinischem Gutachten wies Jürgen Rose Verletzungen durch Tritte und Schlagstockeinsatz auf, die er sich unmöglich selbst zugefügt haben kann. Die Annahme eines Suizids oder eines zufälligen Überfalls sei „lebensfremd“ und ignoriere die vorliegenden Beweise, schreibt Rechtsanwalt Scharmer in der Beschwerde.
Familie erhebt Befangenheitsvorwurf gegen Generalstaatsanwaltschaft
Über die eingelegte Beschwerde der Familie Rose entscheidet ausgerechnet die Generalstaatsanwaltschaft Naumburg. Für die Familie und ihren Anwalt ist das ein Problem. Denn genau diese Behörde hatte bereits 2018 durch ihre Oberstaatsanwälte Gerhard Wetzel und Jörg Blank einen Anfangsverdacht gegen Polizeibeamte im Fall Jürgen Rose verneint.
Besonders kritisch sieht Familie Rose dabei die heutige personelle Besetzung der Generalstaatsanwaltschaft. Jörg Blank, einer der beiden Verfasser des damaligen Prüfvermerks, ist inzwischen zum stellvertretenden Generalstaatsanwalt aufgestiegen. Auch Heike Geyer, die das Ermittlungsverfahren im Fall Oury Jalloh 2017 als Leitende Oberstaatsanwältin in Halle einstellte, wurde zwischenzeitlich zur Generalstaatsanwältin von Sachsen-Anhalt ernannt und leitet heute die Naumburger Behörde.
Laut dem Bericht der vom Landtag Sachsen-Anhalt eingesetzten Sonderberater im Fall Oury Jalloh gab es Hinweise auf Gespräche zwischen dem Justizministerium und Geyer unmittelbar vor der Einstellung des Verfahrens. Dabei sei es um die strategische Ausrichtung der Ermittlungen gegangen.
Die Angehörigen von Jürgen Rose glauben nicht, dass Generalstaatsanwältin Geyer an einer objektiven Aufklärung interessiert ist. Sie verweisen auf ihre frühere Entscheidung, in der Ermittlungen gegen Polizeibeamte des Reviers Dessau trotz vorliegender Beweise eingestellt wurden.
Rechtsanwalt Scharmer beantragt daher in der Beschwerde:
„… das Verfahren entweder an den Generalbundesanwalt aufgrund der nunmehr zumindest feststellbaren Zuständigkeit zu verweisen oder aber zumindest die Sache dem Justizministerium Sachsen-Anhalt vorzulegen und von dort zu bestimmen, dass die Bearbeitung der Beschwerde an eine Vertreterin oder einen Vertreter der Generalstaatsanwältin, nicht aber LOStA Blank oder OStA Wetzel, unter Entziehung der Weisungskompetenz der Generalstaatsanwältin im vorliegenden Fall abgegeben wird.“
Ein Fall mit bundesweiter Signalwirkung: Petition an den Generalbundesanwalt
Das Recherche-Zentrum e.V. hat eine Petition aufgesetzt, um die Bemühungen der Familie Rose um eine unabhängige Aufklärung zu unterstützen. Eingebettet ist ein offener Brief an den Generalbundesanwalt, der sich für eine Wiederaufnahme der Ermittlungen auf Bundesebene stark macht.
Der Fall Jürgen Rose wirft grundlegende Fragen zur Rolle von Polizei, Staatsanwaltschaft und Aufsichtsinstitutionen in Deutschland auf. Wenn trotz neuer Beweise keine unabhängige Untersuchung erfolgt, entsteht ein besorgniserregendes Signal. Nicht nur für den Umgang mit mutmaßlicher Polizeigewalt, sondern auch für das Vertrauen in den Rechtsstaat insgesamt.
Juristisch steht nun die Entscheidung der Generalstaatsanwaltschaft Naumburg an. Parallel wächst der öffentliche Druck. Die Petition, mediale Aufmerksamkeit und die fortdauernde Arbeit des Recherche-Zentrums e.V. im Fall Jürgen Rose sollen den Druck erhöhen, damit sich der Generalbundesanwalt seiner Verantwortung nicht länger entzieht.