Zwei Telefonmitschnitte fehlen bis heute in den Ermittlungsakten.
Wurde die Aufklärung systematisch verhindert?
Was am Vormittag des 7. Januar 2005 im Polizeirevier Dessau geschah und wann genau Oury Jalloh verbrannte, ist bis heute ungeklärt. Die zeitliche Rekonstruktion basiert im Wesentlichen auf der unbelegten Aussage des damaligen Dienstgruppenleiters Andreas S., wonach der Brandalarm um „12:05 Uhr“ ausgelöst worden sei.
Weder das Landgericht Dessau noch das Landgericht Magdeburg konnten die letzten 30 Minuten vor dem Brand rekonstruieren. Trotzdem fällten sie auf Basis seiner Aussage Urteile, auf die sich auch das Bundesverfassungsgericht bei der Bestätigung der Verfahrenseinstellung 2022 stützte.
Zwei Telefonate: bislang unbekannt, aber zentral
Neue Enthüllungen des Recherche-Zentrums zeigen: Andreas S. führte am 7. Januar 2005 zwei Telefonate, eines um 11:27 Uhr und eines um 11:55 Uhr. Diese wurden zwar mitgeschnitten und transkribiert, sind jedoch nie in die Ermittlungsakten im Fall Oury Jalloh eingeflossen. Dabei sind sie die einzigen Beweismittel, die eine zeitgenaue Rekonstruktion der letzten halben Stunde vor dem Brandausbruch in der Zelle 5 des Polizeireviers Dessau ermöglichen.
Brisante Details gehen aus bislang vertraulichen Protokollen des Rechts- und Innenausschusses des Landtages von Sachsen-Anhalt hervor. In den Sitzungen im Juni 2005 mussten sich hochrangige Vertreter der Landesregierung kritischen Fragen stellen – darunter der damalige Innenminister Klaus Jeziorsky, der inzwischen verstorbene Justizminister Curt Becker, der damalige Generalstaatsanwalt Jürgen Konrad sowie der Abteilungsleiter der Polizei im Innenministerium, Jörg Martell. Die Inhalte der Befragungen werfen ein neues Licht auf die damaligen Vorgänge im Innen- und Justizressort.
Sonderberater übersahen die Relevanz der Mitschnitte
2018 sah der Landtag von Sachsen-Anhalt von der Einsetzung eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses ab und setzte stattdessen externe Sonderberater ein. Ihre Aufgabe war es unter anderem, fachlich und rechtlich zu bewerten, ob es im Fall Oury Jalloh zu unzulässigen Beeinflussungen der Ermittlungen gekommen war und ob alle Beweismittel ordnungsgemäß behandelt wurden.
Zwar lagen den Beratern die vertraulichen Protokolle des Innenausschusses vor, doch in ihrem Abschlussbericht griffen sie lediglich einen nebensächlichen Widerspruch in der Aussage des damaligen Polizeiabteilungsleiters Martell auf.
Die zentrale Bedeutung der Telefonmitschnitte für die zeitliche Rekonstruktion des Tattages blieb unentdeckt. Eine spätere Sichtung der staatsanwaltlichen Ermittlungsakten im Fall Oury Jalloh durch das Recherche-Zentrum zeigt: Die Mitschnitte fehlen vollständig. Am 7. Januar 2005 ist für den Zeitraum zwischen 8:54 und 12:11 Uhr kein einziges Telefongespräch dokumentiert.
Das erste Telefonat um 11:27 Uhr
Laut Polizeiabteilungsleiter Martell telefonierte Andreas S. um 11:27 Uhr mit der Polizeidirektion. Das Gespräch habe 1 Minute und 43 Sekunden gedauert. Thema sei eine Meldung zu Oury Jalloh gewesen. Andreas S. hatte vor Gericht stets behauptet, das Gespräch habe zwischen 11:45 Uhr und 12:00 Uhr stattgefunden.
In der Verhandlung erklärte Andreas S., er habe wegen „laute[r] Rufe und Rasselgeräusche“ die Lautstärke der Wechselsprechanlage heruntergedreht. Auch sein Gesprächspartner in der Polizeidirektion habe diese mitbekommen und gefragt, „was denn bei euch los“ sei.
Wenn das stimmt, könnten die Hintergrundgeräusche auf diesem Telefonmitschnitt zu hören sein. Laut übereinstimmender Aussagen mehrerer Polizeibeamter soll es gegen 11:30 Uhr eine „undokumentierte Kontrolle“ der Zelle 5 gegeben haben.
So hatte die Kollegin von Andreas S., die Hauptbelastungszeugin in dem Prozess gegen ihn, in ihrer Zeugenvernehmung ausgesagt: „Ca. 11.30 Uhr gab es eine weitere Kontrolle. Ich habe dies daran bemerkt, dass ich den Zellenschlüssel hörte.“
Ein weiterer Polizeibeamter schilderte vor Gericht, dass er gegen 11:30 Uhr nach seinem Kollegen gesucht habe, um mit ihm in die Kantine zu gehen. Er fand ihn in der Zelle 5, wo dieser neben Oury Jalloh kniete und dessen Hose abtastete. So ist es auch im Urteil des Landgerichts Magdeburg dokumentiert.
Das zweite Telefonat um 11:55 Uhr
Neu ist, dass die Protokolle nun belegen, dass Andreas S. kurz vor dem von ihm behaupteten Zeitpunkt des Brandausbruchs ein weiteres Gespräch mit einer anderen Person der Polizeidirektion Dessau führte. Es fand um 11:55 Uhr statt und dauerte lediglich 24 Sekunden.
Dieses Telefonat könnte ein zentraler Anhaltspunkt für die genaue Bestimmung des tatsächlichen Zeitpunkts des Brandausbruchs sein. In einem Beweisantrag des damaligen Rechtsanwalts der Familie von Oury Jalloh, Felix Isensee, beim Landgericht Dessau heißt es, der Verteidiger von Andreas S. habe erklärt, sein Mandant habe „telefoniert, als der Alarm kam“.
Falls der Brandalarm auf diesem Telefonmitschnitt zu hören ist, wäre dies ein Beweis dafür, dass das Feuer bereits um 11:55 Uhr – also zehn Minuten früher als bislang angenommen – ausbrach.
Telefonate als „nicht relevant“ für die Ermittlungen im Fall Oury Jalloh eingestuft
Generalstaatsanwalt Konrad erklärte auf der vertraulichen Sitzung des Rechtsauschusses 2005, dass die Telefonmitschnitte für die strafrechtlichen Ermittlungen gegen Andreas S. „nicht relevant“ seien. Daher sei der Inhalt der Gespräche der Staatsanwaltschaft auch „nicht bekannt“.
Auch Justizminister Becker stimmte dem zu: „[…] für die Anklageerhebung sei es nicht entscheidend, welchen Inhalt das Gespräch gehabt habe. Von maßgeblicher Bedeutung für die Anklage sei vielmehr die Tatsache, dass der Dienstgruppenleiter die Wechselsprechanlage ausgeschaltet habe.“
Ein Abgeordneter hielt entgegen, es sei „nicht nachvollziehbar“, dass nicht „sämtliche Aufzeichnungsbänder“ von der Staatsanwaltschaft angefordert wurden.
Generalstaatsanwalt Konrad gab an, die Polizeipräsidentin von Dessau würde diese Telefonmitschnitte disziplinarrechtlich prüfen. Das entsprechende Tonband „liege dem Gericht jedoch vor“. Dies behauptete auch Polizeiabteilungsleiter Martell, indem er auf der vertraulichen Sitzung des Innenausschusses äußerte, dass die Polizeipräsidentin von Dessau das Tonband mit den Mitschnitten vom Gericht bekommen hätte.
Das Recherche-Zentrum kann jedoch nachweisen, dass dies nicht stimmt.
Aus den jeweiligen Urteilsbegründungen geht hervor, dass weder das Landgericht Dessau noch das Landgericht Magdeburg von den Aufzeichnungen wussten. Laut den vorliegenden Ermittlungsakten im Fall Oury Jalloh, hatte das Landgericht Dessau 2008 aktiv versucht, bei der Polizeidirektion Dessau sämtliche Telefonmitschnitte vom 7. Januar 2005 mit dem Polizeirevier Dessau zu beschaffen – erfolglos.
Wiederholt getäuscht: Die zentrale Rolle des Generalstaatsanwalts Jürgen Konrad
Unsere Recherchen belegen: Generalstaatsanwalt Konrad hat den Landtag von Sachsen-Anhalt bereits 2005 in die Irre geführt. Er hatte den Landtagsabgeordneten gegenüber erklärt, dass es richtig gewesen sei, dass die beiden Telefonmitschnitte, die offensichtlich von großer Bedeutung für die Gerichtsverfahren gegen Andreas S. gewesen wären, nicht in die Ermittlungsakten eingeflossen sind.
Doch die Rolle des damaligen Generalstaatsanwaltes endet nicht dort. 2017 wurde er vom Justizministerium erneut mit einer Prüfung des Falls Oury Jalloh betraut. Seine Behörde stellte die Ermittlungen im darauffolgenden Jahr dann endgültig ein. In dem gut 200-seitigen Prüfvermerk aus dem Jahr 2018 tauchen die beiden Telefonmitschnitte mit keinem einzigen Wort auf.
Erst im Jahr 2020 belegt der Abschlussbericht der Sonderberater, dass Generalstaatsanwalt Konrad gegenüber dem Landtag von Sachsen-Anhalt im Jahr 2017 „unzutreffende“ und „objektiv falsch[e]“ Angaben gemacht hat. Ein Gespräch mit ihm sei den Sonderberatern verweigert worden.
Fazit: Urteile ohne zentrale Beweise – und ohne echten Aufklärungswillen?
Die beiden Tonbandmitschnitte vom 7. Januar 2005 fehlen bis heute in den Ermittlungsakten. Generalstaatsanwalt Konrad stufte sie als „nicht relevant“ ein, obwohl sie für die zeitliche Rekonstruktion und die Anklageerhebung zentral sind.
Dieser Ansicht ist auch Rechtsanwalt Felix Isensee, der auf Nachfrage des Recherche-Zentrums erklärt, dass die Mitschnitte dem Gericht zur Verfügung zu stellen waren, da die Abläufe bis zum Anspringen des Brandalarms nicht aufgeklärt wurden.
Das Verhalten der involvierten Behördenleiter bewertet Felix Isensee kritisch:
„Die Entscheidung, diese Mitschnitte nicht an die Staatsanwaltschaft zu übermitteln, stellt sich als rechtswidrig dar. Der Grundsatz der Aktenvollständigkeit und -wahrheit wurde unterlaufen.“
Generalstaatsanwalt Konrad handelte dabei nicht losgelöst vom politischen Kontext. Als Generalstaatsanwalt war er weisungsgebunden und somit dem Justizministerium unterstellt. Die Äußerungen des Justizministers Becker im Rechtsausschuss 2005 lassen den Verdacht entstehen, dass die Zurückhaltung dieser zentralen Beweismittel eine politische Entscheidung gegen die vollständige Aufklärung war.
Der Bundesgerichtshof hat bezüglich der Handhabung von Beweismitteln einen eindeutigen Beschluss gefasst:
„Es steht nicht im Belieben der Ermittlungsbehörden, ob sie strafprozessuale Ermittlungsmaßnahmen in den Akten vermerken. […] Es ist den Ermittlungsbehörden daher grundsätzlich die Vornahme einer Selektion ebenso verwehrt wie das – auch zeitweilige – Fernhalten von Erkenntnissen aus den Akten.“
(BGH Ermittlungsrichter 2 BGs 408/20 – Beschluss vom 16. Dezember 2020)
All das wirft eine grundlegende Frage auf: Durfte die Generalstaatsanwaltschaft von Sachsen-Anhalt jemals einen echten Willen zur Aufklärung im Oury-Jalloh-Komplex entwickeln?
Stellungnahmen
Das Recherche-Zentrum hat alle im Artikel genannten Akteure um eine Stellungnahme zum Umgang mit den beiden Telefonmitschnitten und den damit verbundenen Vorwürfen gebeten.
Die Antworten an das Recherche-Zentrum lauteten:
Andreas S. hat bis Redaktionsschluss nicht geantwortet.
Das Landgericht Dessau verwies an die Staatsanwaltschaft Dessau. Diese erklärte, dass sich das Verfahren nicht mehr bei ihr befinde, und verwies an die Generalstaatsanwaltschaft Naumburg.
Die Generalstaatsanwaltschaft Naumburg hat bis Redaktionsschluss nicht geantwortet.
Das Justizministerium verweist auf die „justizielle Aufarbeitung des Todesfalls Oury Jalloh“, welche durch „höchstrichterliche Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, des Bundesgerichtshofs und des Oberlandesgerichts Naumburg abgeschlossen“ sei. Zudem verweist das Ministerium auf die Sonderberater und deren Feststellungen. Weitere Fragen seien an das Ministerium für Inneres und Sport des Landes Sachsen-Anhalt zu richten.
Das Innenministerium hat eine Stellungnahme sowie die Beantwortung zusätzlicher Fragen für Mitte Juli 2025 in Aussicht gestellt.
Der damalige Sonderberater Jerzy Montag teilte mit, dass er aufgrund eines Auslandsaufenthalts keinen Zugang zu seinen Unterlagen habe.