Im Rahmen der Ausstellung „THREE DOORS“, die 2024 von Forensis / Forensic Architecture im Württembergischen Kunstverein Stuttgart organisiert wurde, entstand in Kooperation mit dem Recherche-Zentrum eine Karte, die zentrale Orte und Zeitpunkte im Fall Jürgen Rose miteinander verknüpft.
Sie macht jene Widersprüche sichtbar, die sich aus den Ermittlungsakten ergeben, insbesondere mit Blick auf das Bewegungsprofil von Jürgen Rose.
Die Nacht des 7. Dezember 1997
In der Nacht zum 7. Dezember 1997 wurde Jürgen Rose von Beamten zum Dessauer Polizeirevier in der Wolfgangstraße 25 gebracht.
Laut Ermittlungsakte geschah dies zweimal: Zunächst habe man ihn gegen 1:35 Uhr mitgenommen und um 3:01 Uhr wieder entlassen. Nur wenige Minuten später, um 3:10 Uhr, sei er ein weiteres Mal ins Revier gebracht worden, ehe man ihn um 3:35 Uhr erneut habe gehen lassen.
Um 5:06 Uhr entdeckte ein Anwohner der Wolfgangstraße 15 den schwer verletzten Jürgen Rose. Er lag nur mit T-Shirt und Hose bekleidet in einer dunklen, feuchten Ecke, bei Temperaturen um den Gefrierpunkt.
Widersprüche in den Aussagen der Beamten
Die offizielle Darstellung steht im Widerspruch zu mehreren Details. Nach Angaben der Beamten habe sich Jürgen Rose nach der ersten Entlassung zur Zerbster Straße 37, dem Ort seiner Mitnahme, begeben und sei von dort mit dem Auto „in Richtung Roßlau“ gefahren.
Nach der zweiten Entlassung sei er, laut Aussage eines Beamten, nach „rechts“ in Richtung Bahnhof gegangen.
Nichts spricht dafür, dass Jürgen Rose in jener Nacht aus eigener Initiative in eine andere Stadt gefahren oder zum Bahnhof gegangen wäre.
Die Beamten schienen keine Kenntnis davon zu haben, dass Jürgen Rose in jener Nacht – wie schon an den vorangegangenen Tagen – bei Freunden in der Zerbster Straße 39 übernachten wollte. Es ist naheliegend, dass er nach der Entlassung aus dem Revier dorthin zurückgekehrt wäre, da er sowohl den Wohnungsschlüssel bei sich trug als auch seine Winterjacke dort abgelegt hatte. Deshalb hatte er auch sein Auto dort geparkt.
Seine Meldeadresse befand sich in Wolfen und er hatte ein Wolfener Autokennzeichen. Möglicherweise basierte die Fehleinschätzung der Beamten auf dieser Information, was dazu führte, dass sie annahmen, er habe dorthin zurückkehren wollen.
Wie kam Jürgen Rose an den Fundort?
Neben den Widersprüchen in den Aussagen der Beamten sprechen auch medizinische Befunde gegen die offizielle Version. 1998 kam die Rechtsmedizin zu dem Ergebnis, dass Jürgen Rose eine Rückenverletzung erlitten hatte, vermutlich durch einen Sturz auf einen „prominenten Gegenstand“. Diese Verletzung führte zu einer Querschnittslähmung.
Die damalige Rechtsmedizinerin Frau Dr. Romanowski war sich auch im Interview mit dem Recherche-Zentrum 25 Jahre später sicher, dass der Fundort nicht der Tatort gewesen sein kann, da es diesen „prominenten Gegenstand“ vor der Wolfgangstraße 15 nicht gab.
Darüber hinaus gibt es in der Ermittlungsakte ein starkes Indiz dafür, dass Jürgen Rose zum Fundort transportiert wurde: Ein Anwohner der Wolfgangstraße 15 hörte zwischen 4:26 Uhr und 4:28 Uhr unter seinem Schlafzimmerfenster das Geräusch einer Autoschiebetür sowie „Stimmen mehrerer Personen“.
Auch Spuren der Kleidung von Jürgen Rose deuten auf ein Schleifen des Körpers hin.
Die Gesamtheit der Indizien legt nahe, dass Jürgen Rose nicht selbst dorthin gelangte, sondern von anderen am Fundort abgelegt wurde.
Die Karte macht sichtbar, was die Akte verbirgt
Die vom Recherche-Zentrum in Auftrag gegebene forensische Analyse des polizeilichen Lagefilms der Nacht belegt zweifelsfrei, dass alle Uhrzeiten, die die Festnahmen und Entlassungen von Jürgen Rose betreffen, nachträglich verändert wurden. Diese manipulierten Angaben gelangten in die Ermittlungsakte und untergraben die Glaubwürdigkeit der offiziellen Darstellung.
Die kartographische Rekonstruktion zeigt ein Muster aus widersprüchlichen Aussagen und übersehenen Hinweisen. Der Eindruck entsteht, dass weniger an einer vollständigen Aufklärung gearbeitet wurde als vielmehr an der Absicherung einer Version der Ereignisse, die polizeiliches Fehlverhalten ausschließt.
Der Ort, an dem Jürgen Rose schwer verletzt entdeckt wurde, entspricht dem Weg, den die Beamten in ihren Aussagen beschrieben haben. Er lag dort ohne Jacke, bei Kälte, in einer dunklen Ecke. Ein Ort, den er mit der erlittenen Querschnittslähmung kaum selbst hätte erreichen können.
Die Indizien legen nahe, dass er dort abgelegt wurde, offenbar in der Hoffnung, dass er nicht überlebt. Wer ihn dorthin brachte und warum, ist bis heute ungeklärt.