Oury Jalloh

Fall Oury Jalloh: Sagt das Innenministerium die Unwahrheit?

Im Mai 2025 berichtete das Recherche-Zentrum, dass zwei zentrale Telefonmitschnitte vom 7. Januar 2005 nicht in die Ermittlungsakten im Fall Oury Jalloh gelangten.

Es handelt sich um Gespräche, die der damalige angeklagte Dienstgruppenleiter Andreas S. um 11:27 Uhr und 11:55 Uhr mit der Polizeidirektion Dessau führte. Zeugenaussagen zufolge sind darauf möglicherweise Hintergrundgeräusche aus der Zelle 5 zu hören, in der Oury Jalloh fixiert war. Eventuell wurde auch der Brandalarm mit aufgezeichnet. Sollte dies zutreffen, wäre das Feuer rund zehn Minuten früher ausgebrochen als von Andreas S. bislang behauptet. Das hätte erhebliche Auswirkungen auf die Anklage gehabt.

Die Landtagsfraktion der Partei Die Linke stellte dazu mehrere Kleine Anfragen an die Landesregierung. Die nun vorliegenden Antworten des Justizministeriums und des Innenministeriums lassen entscheidende Fragen unbeantwortet. Vor allem wird deutlich, dass falsche Angaben gegenüber Abgeordneten in dieser Angelegenheit offenbar bis heute üblich sind.

Das Innenministerium wusste seit Mitte Januar 2005 von den Telefonmitschnitten

In den aktuellen Antworten behauptet das Innenministerium, erst am 14. Juni 2005 durch ein Fax der Polizeidirektion Dessau von den beiden Mitschnitten erfahren zu haben. Aus den Protokollen des Rechtsausschusses vom 15. Juni 2005 geht jedoch hervor, dass Jörg Martell, damaliger Abteilungsleiter der Polizei im Innenministerium, erklärte, er habe bereits Mitte Januar 2005 im Rahmen seiner „aufsichtlichen Tätigkeit“ von der Polizeidirektion Stendal von den Aufzeichnungen erfahren. Die Antwort des Ministeriums ist damit nachweislich falsch.

Die vom Landtag eingesetzten Sonderberater Jerzy Montag und Manfred Nötzel stellten in ihrem Bericht von 2020 fest, dass Jörg Martell die Abgeordneten bereits im Februar 2005 zu diesem Punkt getäuscht hatte. Damals erklärte er vor dem Rechtsausschuss, es gebe diese Mitschnitte gar nicht.

Dass das Innenministerium seit Januar 2005 informiert war, während die zuständige Staatsanwaltschaft Dessau davon nichts wusste, ist ein äußerst fragwürdiger Vorgang, der dringend aufgeklärt werden muss.

Wann war die Generalstaatsanwaltschaft informiert?

Das Innenministerium gibt an, dass der damalige Generalstaatsanwalt Jürgen Konrad erst am 15. Juni 2005 in einer vertraulichen Sitzung des Rechtsausschusses von den Mitschnitten erfuhr. Dort erklärte er jedoch sofort, die beiden Mitschnitte seien ohne Bedeutung. Sie befänden sich deshalb nicht in der Ermittlungsakte und seien der Staatsanwaltschaft Dessau nicht bekannt.

Die Sicherheit, mit der Jürgen Konrad dies vortrug, legt nahe, dass er bereits vorher informiert war. Ohne Prüfung der Ermittlungsakte oder Rücksprache mit der Staatsanwaltschaft Dessau wäre eine so klare Bewertung am selben Tag der Kenntnisnahme kaum möglich gewesen. Seine eigenen Aussagen am 20. Juni 2005 im Innenausschuss deuten darauf hin, dass er schon im Februar 2005 gegenüber Abgeordneten geäußert hatte, Gesprächspartner und Inhalte der Telefonate seien für den Tatvorwurf der Staatsanwaltschaft Dessau ohne Relevanz.

Unvollständige Wiedergabe im Rechtsausschuss

Das Innenministerium behauptet in der Antwort auf die Kleine Anfrage, Jörg Martell habe die Mitschnitte am 15. Juni 2005 vollständig wiedergegeben. Auch das Justizministerium erklärt, die Telefonate seien „im Wortlaut bekannt“. Das Sitzungsprotokoll belegt das Gegenteil.

Das erste Gespräch um 11:27 Uhr dauerte 1 Minute und 43 Sekunden und betraf die Erstellung einer „Wichtigen Eilmeldung“ zu Oury Jalloh. Jörg Martell zitierte nur einen kurzen Ausschnitt. Das zweite Gespräch um 11:55 Uhr dauerte 24 Sekunden. Auch hier gab er nur einen Satz wieder: „Ich habe mal was abgeschickt. Ja, genau, WE-Meldung.“

Widersprüche zwischen Zeugenaussagen und Mitschnitten

Zeugenaussagen zufolge soll der stellvertretende Kommissar vom Lagedienst im ersten Gespräch aufgrund von Geräuschen aus der Zelle 5 gefragt haben: „Was ist denn bei euch los?“. So ist es im Urteil von Magdeburg (landesrecht.sachsen-anhalt.de) festgehalten. Eine Zeugin berichtete, Andreas S. habe daraufhin die Wechselsprechanlage leise gestellt. Diese Passage fehlt komplett in Martells Darstellung.

Wenn die Staatsanwaltschaft Dessau die Möglichkeit hat, Aussagen durch das Anhören solcher Mitschnitte zu überprüfen, muss sie das tun. Besonders, wenn es um eine Zelle geht, in der der Gefangene fixiert war und kurz darauf unter ungeklärten Umständen starb. Hinweise auf einen früheren Ausbruch des Feuers und das Leiserstellen der Wechselsprechanlage betreffen direkt den Kern der damaligen Anklage wegen fahrlässiger Tötung. Beide Mitschnitte hätten zwingend in die Ermittlungsakte aufgenommen werden müssen.

Die Originalaufnahmen liegen bei der Generalstaatsanwaltschaft

Nach Angaben der Generalstaatsanwaltschaft befindet sich das Originaltonband der beiden Mitschnitte in Naumburg. Sie sind auf einer DAT-Kassette gespeichert und können nur mit dem entsprechenden Abspielgerät wiedergegeben werden. Dieses Gerät sei derzeit nicht verfügbar, die technische Prüfung dauere daher an.

Die Antworten der Ministerien auf die Kleinen Anfragen deuten darauf hin, dass auch heute kein Interesse besteht, offenzulegen, was auf diesen Mitschnitten zu hören ist. Schon 2005 sollten sie nicht in die staatsanwaltliche Ermittlungsakte aufgenommen werden. Alles spricht dafür, dass auch jetzt versucht wird, die Anhörung hinauszuzögern.

Aber die beiden Telefonmitschnitte könnten nicht nur den Ablauf infrage stellen, sondern auch die Glaubwürdigkeit zentraler Zeugenaussagen. Sie müssen deshalb dringend angehört werden.

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